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Scary food oder Highlight traditioneller Kochkunst?

Nov 25 , 2008

Vielleicht doch besser ein Eis essen?

Vielleicht doch besser ein Eis essen?

Das traditionelle Schafkopfessen auf der isländischen Halbinsel Vatnsnes im Oktober

 

Für dieses Jahr ist es überstanden. Nun ist erst mal für einige Monate Schluß mit Schafköpfen. Sie kommen erst im Februar beim Winterfest, dem Þorrablót, wieder bergeweise auf den Tisch.

 

Die Schlachtzeit der Lämmer neigt sich dem Ende zu. Danach sieht der Schafkalender eine Ruhephase der Muttertiere vor, ehe sie an Weihnachten gedeckt werden; die Lammzeit folgt im Mai, an die sich die große Freiheit im Hochland Islands anschließt, dieser horizontumspannenden und bis auf den Osten weitgehend naturbelassenen Kräuter- und Mooswelt. Gerade das freie Grasen gibt dem Fleisch einen sanften Wildgeschmack, welcher derzeit – vom isländischen Landwirtschaftsministerium gefördert – in den USA Furore macht. Da werden die Vorzeigeteile der Lämmer verbraten, gegrillt und auf der Zunge zergehen lassen, die Lenden, Koteletts, Keulen, etwas Schulter hier und da. Das Meiste andere wird bei einer solchen Kampagne als Beiprodukt eingestuft.

Ausgerechnet auf diesen recht unattraktiven Teilen beruht die Popularität des Schafkopfessens sviðamessa auf der Halbinsel Vatnsnes im Nordwesten der Vulkaninsel. Die Region ist unter Touristen als Eldorado der Robbenbeobachtung bekannt. Gespaltene Köpfe und sehninge Füsse, eine Hodenspezialität, Kartoffelbrei mit Zucker und gestampfte Rüben entspringen den kundigen Händen der Hausfrauen von Vatnsnes. So haben es ihre Mütter und Großmütter auch gekocht: Weder Soße, Kerzenlicht noch mildernde Umstände wie der anderswo unvermeidliche Apfel im Maul des Schlachtbratens geleiten Neulinge über die Hemmschwelle. Als einzige Annäherung an moderne Eß- und Sehgewohnheiten gibt es Schafkopfsülze. Die ist über Schafsmist geräuchert.

Was auf den ersten Blick wie die Rekonstruktion eines schlecht inszenierten Wikingermahles oder scary food an Halloween wirkt, hat es traditionell in sich. Das freie Aufwachsen der Lämmer, die sorgsame Vorbereitung der lokalen Speisen und die unverfälschte Zubereitung  deuten eher auf slow food hin, doch mit Etiketten will frau sich auf Vatnsnes nicht brüsten. Essen zu bereiten ist Arbeit, jemanden zu bewirten entlohnt dafür. Und der Humor darf nicht zu kurz kommen. In der Tat wird bei der Vorbereitung all der rumpflosen Leichenteilen ordentlich gelacht.

Das Schafkopfessen basiert auf Zusammenarbeit. Die Hoden zum Beispiel werden von Gulla und Stella im Skrotum originalverpackt zunächst abgesengt, denn es sind ja feine Löckchen dran, danach gesotten und einige Tage eingesalzen. Svala hängt sie sodann im kalten Rauch auf, und dann werden sie gepreßt, damit sie Festigkeit erhalten. Am Tag des Festessens schneidet Stína Maja sie in feine Scheiben. So auf Platten angerichtet, erinnert die brisante Delikatesse an John Lennons Nasenfahrrad, weshalb die gestandenen Hausfrauen von Vatnsnes sie auch liebevoll gleraugnapylsa, Brillenwurst, nennen. Die Samenfäden kleiden sich während der beschriebenen Prozedur in strahlendes Purpur, die Testikel selbst sind grau und elastisch. Muß man mehr wissen?

Rogen und Milchner, Ochsenmaulsalat, Schweinskopfsülze, Kuddeln, Lüngerl, Eisbein – das sind mitteleuropäische Spezialitäten, die der Notwendigkeit entsprangen, jedes Teil eines getöteten Tieres zu verwenden. Hausfrauen sowie Küchenchefs in Island und anderswo wissen, wie das gemacht wird. Anderswo wird vielleicht mehr Wert auf die Optik gelegt. Oder mehr Werbung gemacht. Doch auch ohne Food Styling und Promotion ist die jährliche sviðamessa ein Erfolg.

Schafzucht ist auf der Halbinsel Vatnsnes Haupterwerbszweig. Das fast bis oben bewachsene Bergmassiv Vatnsnesfjall mit Þrælsfell, dem Sklavenberg als höchster Erhebung (knapp 900 m), stellt hervorragendes Weideland dar. Auf der Liste erfolgreicher Schafbauern Islands rangieren die von Vatnsnes ganz oben. Sie leben auf verstreuten Höfen, meistens an der Küste entlang. Vor gut zehn Jahren schlossen sich die Bäuerinnen zusammen, um traditionelle Eßkultur zu bewahren und im kleinen Rahmen bekannt zu machen. Das geschieht durch das jährliche Küstenbüffet zur Mittsommerzeit, zu dem an einem Tag Hunderte von Feinschmeckern anrücken, um die rund vierzig Delikatessen zu goutieren, vom sauer eingelegten Möwenei über geräuchertes Robbenfleisch bis hin zu Rogenplinsen oder Blutpfannkuchen. Die Ingredienzien sind nicht einmal im Fachhandel zu beziehen, weshalb die Vorbereitungen zum Küstenbüffet Monate in Anspruch nehmen. Es muß erst mal gejagt, gefischt und gesammelt werden, ehe die langwierige Verarbeitung der Speisen beginnen kann. Das Schafkopfessen ist ganz im Sinne des Küstenbüffets zu verstehen, als Herbstvariation, als Ode an das wichtigste Nutztier auf Vatnsnes, das Islandschaf.

Es gibt Schafköpfe in diverser Manier: frisch und gekocht, gepökelt oder leicht gesalzen. Dito mit den Schafsfüssen, die nur mit Mühe zu beschaffen sind und wie die Köpfe einer besonderen Veterinärbescheinigung bedürfen. Erst werden sie mit dem Gasbrenner (am besten im Freien) abgesengt, darauf geschrubbt und gereinigt. Dann folgen einsalzen oder räuchern. Schließlich wird die seltene Köstlichkeit in diversen Riesentöpfen lange köcheln lassen, ehe sie auf den Tisch der selbstkritischen Hausfrauen gelangt. 

Unter den Gästen der sviðamessa dominiert mittleres Alter, aber auch Jugendliche und Greise sind vertreten. Nachts um zwölf ist alles vorbei. Berge von Knochen, aus denen früher Spielzeug, Halterungen für Heubündel und vieles andere hergestellt wurde, sind übrig geblieben. Dessert hat es natürlich nicht gegeben, das fiele völlig aus dem Rahmen, doch wurde starker molakaffi serviert, Kaffee mit Zuckerwürfeln. Auch wurde schwungvoll gesungen.

Und dann?

Eine kurze Besprechung der Hausfrauen, bevor sie lange nach Mitternacht, nach dem Gipfelsieg über den Spülberg und der Resteverwaltung zu ihren Höfen zurück fahren. Einstimmiger Beschluß: Die Einnahmen des Abends werden auf ein lokales Spendenkonto zu Gunsten einer Witwe mit großem Haushalt geleitet.

Ich, die Helferin aus Rheinhessen, wo Milch und Honig fließen, fahre total erschöpft und hungrig wie eine Wölfin heim, nehme Stína Maja ein Stück mit, und eine vergessene Handtasche müssen wir auch noch unerwegs abliefern. Im Körbchen habe ich weder Schafköpfe noch gaumenschmeichelnde Hoden, sondern einen geräucherten Seehasen von Gulla. Den werde ich mit einem Glas Löwenzahnweines daheim genießen, wenn die Erinnerung an die Schafbeiprodukte sich verflüchtigt hat.

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